Schrift und Barrierefreiheit
Ab Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in Kraft, welches die Europäische Barrierefreiheitsrichtlinie umsetzt. Was bedeutet das für Schrift?
Ab Juni 2025 gilt die gesetzliche Pflicht zur Barrierefreiheit bei Produkten mit digitaler Bedienung, geregelt durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Das BFSG greift jedoch nicht automatisch für jeden (zum SelbstCheck). Es bezieht sich hauptsächlich auf Dienstleistungen wie Telefondienste oder Messengerdienste und Produkte wie E-Books, Notebooks, Computer, Tablets etc. So weit so gut! Aber was heißt das jetzt im Detail für Schrift und Schriftgestaltung?
Inhaltsverzeichnis:
1. Worum geht es bei dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?
2. Was von dem Gesetz ist relevant für Schrift?
3. Wie kann Schrift Barrierefreiheit unterstützen?
4. Wie kann Typografie Barrierefreiheit unterstützen?
5. Welche Schriften sind barrierearm?
6. Fazit: Was bedeutet das zukünftig für Schrift und Schriftnutzene?
7. Quellen
1. Worum geht es bei dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?
Das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz dient der Umsetzung und Information von Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen. Bei der Recherche rund um das neue Gesetz trifft man auch auf andere Verordnungen (BITV, WCAG, BGG), was zunächst verwirrend sein kann. Das liegt daran, dass das BFSG die bisherigen Anforderungen, die bereits in der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV), den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) und dem Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) festgehalten worden sind, an die neue europaweite Richtlinie anpasst.
Grundlegend ist hierbei die Harmonisierte Europäische Norm: DIN EN 301 549, welche die wichtigste Sammlung von einschlägigen Barrierefreiheitsanforderungen für Informations- und Kommunikationstechnik ist.
Mit dem neuen BFSG werden die Anforderungen aus der oben genannten Norm neben dem öffentlichen Sektor nun auch für die private Wirtschaft erforderlich.
2. Was von dem Gesetz ist relevant für Schrift?
Fonts sind digitale Produkte. Müssen sie dann nicht automatisch auch dem Gesetz unterliegen? Ganz so einfach ist es nicht. Die EN 301 549 behandelt zwar kurz Themen wie Lesbarkeit und Design in der WCAG 2.1, die eingehalten werden sollen, aber es werden keine gesetzlichen Vorgaben zur genauen Schriftwahl oder gar zum Schriftdesign gemacht. Es ist also kein Muss, eine ganz bestimmte Schriftart zu wählen.
Es kann festgehalten werden, dass es keine allgemein gültigen gesetzlichen Anforderungen an Schriftdesign gibt und es in den Normen oft vorrangig um Lesbarkeit und nicht Leserlichkeit von Schrift geht. Folgerichtig wäre es demzufolge von lesefreundlichen oder barrierearmen Schriften zu sprechen, anstatt von barrierefreien Schriften.
Trotzdem gibt es natürlich Empfehlungen für das Design von lesefreundlichen Schriften, wie die DIN 1450 oder die Leitlinie vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV).
3. Wie kann Schrift Barrierefreiheit unterstützen?
Gleich vorab: Ansprüche wie Leserlichkeit und Zugänglichkeit von Schrift sind in der Schriftgestaltung und ihrer Geschichte nichts Neues. Angefangen bei den einzelnen Formen, über die Abstände der Buchstaben zueinander, hin zum Grauwert des Textes – Schriftgestalterinnen und -gestalter, sorgen dafür, dass die einzelnen Zeichen adäquat zu erkennen sind und zusammen ein harmonisches Ganzes ergeben.
Schrift bewegte sich jedoch schon immer in dem Spannungsfeld zwischen Expression und Funktion. Zum Glück! Schriften, die nicht vorrangig leserlich sind, zielen meistens auch nicht darauf ab. Ruhige und angenehme Leseschriften für Mengentext haben die gleiche Berechtigung wie ausdrucksvolle Schriften für Headlines. Diese Vielfalt von Schrift ermöglicht es, Inhalte nicht nur textlich, sondern auch optisch zu vermitteln.
Für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit, Lese, -Rechtschreib-, oder Lernschwäche, Migräne oder anderen Krankheiten, die die Fähigkeit der Aufnahme beeinträchtigen, gibt es Kriterien, die das Erkennen der Inhalte und das Lesen erleichtern. Bevor wir uns die entsprechenden Schriftauswahl -und Schriftdesignkriterien anschauen, werfen wir einen Blick auf den wichtigen Unterschied von Leserlichkeit und Lesbarkeit.
Leserlichkeit und Lesbarkeit
Geschriebenes sollte für Lesende leicht zu entziffern sein. Grundlegend dafür sind zum einen die individuellen Buchstabenformen und zum anderen die typografische Anwendung der Schrift.
Bei Leserlichkeit geht es um das Wahrnehmen, Erkennen und Unterscheiden von einzelnen Buchstaben und Wörtern. Bei Lesbarkeit hingegen geht es um die Verständlichkeit und Klarheit von Text, welche vor allem typografisch, aber auch sprachlich, persönlich und situationsbedingt beeinflusst wird.
Kurzum: Die Leserlichkeit der Schrift bezieht sich auf das Design der Buchstaben und deren Zusammenspiel, während die Lesbarkeit eher den Umgang mit Schrift in verschiedenen Kontexten und unter verschiedenen Bedingungen beschreibt.
Erkennbarkeit der Buchstaben
Bei der Erkennbarkeit geht es um das formale Erfassen der einzelnen Zeichen und deren Unterscheidbarkeit voneinander. Buchstaben zu erkennen, muss zudem erst gelernt werden. Das bedeutet, dass übliche und gewohnte Formen für Lesende oft geeigneter sind als formal komplexe Formen.
Differenzierbarkeit der Buchstaben
Die Buchstaben sollten sich in ihren Formen deutlich voneinander unterscheiden, so dass sie schnell von den Lesenden erfasst werden können. Die Verwendung von fast identischen Formen für verschiedene Zeichen sollte vermieden werden. Aus diesem Grund eignen sich humanistisch gestaltete Serifenlose besser als geometrisch gestaltete.
Offenheit
Bei der Offenheit geht es um die erkennbaren Zwischenräume der einzelnen Zeichen. Je größer und offener dieser Zwischenraum ist, desto besser erkennbar ist das Zeichen, insbesondere auch im Zusammenspiel mit Faktoren wie schlechter Druckqualität, unscharfer Sicht oder ungeeigneten Lichtverhältnissen.
Proportionen
Eine hohe x-Höhe (Mittelhöhe), keine zu kurzen Ober- und Unterlängen, sowie eine stabile Breite der Buchstaben unterstützen den Lesefluss und helfen bei der Buchstabendifferenzierung.
Strichstärkenkontrast
Ist der Kontrast der Buchstaben zwischen Stamm und Haarlinie zu stark, können feine Linien je nach Anwendung wegbrechen oder nicht adäquat wahrgenommen werden. Um Leserlichkeit zu gewährleisten, sind Schriften mit einem geringeren Strichstärkenkontrast deshalb besser geeignet.
Schriftweite
Die Breite einer Schrift ergibt sich aus dem Abstand der beiden Stämme des n. Von Compressed, Condensed, Normal bis hin zu Extended können Schriften sehr unterschiedlich weit gestaltet sein. Schmal laufende Schriften erschweren den Leseprozess durch kleine Weißräume innerhalb der Buchstaben. Sind Schriften hingegen sehr breit, schafft das Auge innerhalb eines Augensprungs beim Lesen nicht viele Buchstaben zu erfassen. Aus diesen Gründen werden normal breite Schriften empfohlen.
4. Wie kann Typografie Barrierefreiheit unterstützen?
Wie bereits erklärt, hat nicht nur die Schrift selbst, sondern auch ihre typografische Anwendung, sowie zusätzliche individuelle Gegebenheiten einen großen Einfluss auf das Lesen. In dem folgenden Abschnitt möchten wir lediglich auf die typografischen Faktoren eingehen und deren Bedeutung kurz erklären.
Schriftgröße
Die gleiche Schriftgröße (=Punktgröße) heißt nicht, dass alle Schriften in einer bestimmten Punktgröße auch wirklich gleich groß sind. Schriften variieren hier sehr stark, weswegen es hilfreicher ist, die Höhe der Kleinbuchstaben (x-Höhe, Mittelhöhe) als Maß für die Leserlichkeit zu nehmen.
Beeinflusst durch Medium, Abstand zum Medium, persönliche Einschränkungen, Textart, Designabsicht etc, ist es schwierig allgemeingültige Aussagen zur optimalen Schriftgröße zu machen. Je nach Umgebung muss hier individuell entschieden werden.
Leading and Line Length
Ascenders and descenders should not touch. A line spacing of about 120% of the type size is often appropriate. Leading that is too generous can be perceived as distracting, as can line spacing that is too narrow. The choice of leading should always be made in conjunction with the chosen typeface.
Lines that are too short often lead to word-wrapping and increased line breaks, which disrupt the flow of reading. Lines that are too long make it difficult to find the beginning of the line. For this reason, long lines generally require a larger leading than short lines. The length of the line should be decided on an individual basis, depending on the type of text.
Zeilenabstand und Zeilenlänge
Ober- und Unterlängen der Schrift sollten sich nicht berühren. Dafür ist oft ein Zeilenabstand von circa 120 % der Schriftgröße geeignet. Ein zu weiter Zeilenabstand kann genau wie ein zu enger Zeilenabstand als störend empfunden werden. Die Entscheidung des Zeilenabstandes ist immer im Zusammenhang mit der gewählten Schrift zu treffen.
Zu kurze Zeilen führen oft zu Worttrennungen und vermehrten Zeilenumbrüchen, was den Lesefluss stört. Zu lange Zeilen erschweren es hingegen, den Beginn der Zeile wiederzufinden. Aus diesem Grund erfordern lange Zeilen generell einen größeren Zeilenabstand als kurze. Je nach Textart muss individuell über die Zeilenlänge entschieden werden.
Typografie an Bildschirmen
Auch wenn wir mittlerweile von hochauflösenden Bildschirmen umgeben sind, haben deren Eigenschaften erheblichen Einfluss auf die Lesekomfortabiltät. So spielen zum Beispiel die Auflösung und Größe des Screens, die Helligkeit, aber auch der Abstand des Lesenden und die individuelle Umgebung eine wichtige Rolle. Schriftgrößen, Zeilenlänge und Zeilenabstände sollten entsprechend der Bildschirmgröße für eine bessere Lesbarkeit individuell angepasst werden. Der Einsatz von speziellen Screen-Schriften unterstützt die Lesbarkeit am Bildschirm positiv.
Textanordnung
Förderlich für die Lesbarkeit ist es, wenn der Text in Leserichtung und waagerecht angeordnet ist. Linksbündiger Flattersatz ist vorteilhaft, da durch Blocksatz Unregelmäßigkeiten in dem Grauwert des Textes durch z.B. zu große Wortabstände entstehen können.
Struktur und Abstände
Eine eindeutige typografische Hierarchie, sowie deutliche Abstände von Texten zu Rändern, Bildmaterial und anderen Textabschnitten erleichtern die Leserführung. Typografie sollte dem Lesenden helfen, sich im Text und der Information orientieren zu können. Dafür ist es hilfreich, Textabschnitte (Überschriften, Fließtexte, Zitate, Bildunterschriften etc.) typografisch unterschiedlich zu behandeln und anzuordnen, um den Lesenden strukturiert durch die Information zu führen.
Auszeichnungen
Auszeichnungen im Text durch verschiedene Schriftstärken (Bold, Light etc.), Schriftstile (Aufrecht, Kursiv, Display) oder Versal- und Kapitälchensatz sollten bedacht gewählt werden und einen klaren und nachvollziehbaren Zweck verfolgen. Das Zusammenspiel von vielen verschiedenen Auszeichnungen erschwert die Lesbarkeit und kann störend wirken. Zu dünne Schriftschnitte resultieren in einem zu geringen Grauwert, zu fette Schnitte erschweren durch weniger Weißraum das Lesen. Versalien oder auch Kapitälchen sind beschwerlich zu lesen.
Aber auch hier rechtfertigt der Zweck und die Art des Textes die Mittel: Überschriften in Bold, kurze Zitate in Kursiv oder Poster gesetzt in Display Schriften haben durchaus Berechtigung.
5. Welche Schriften sind barrierearm?
Leserlichkeit ist immer wieder Thema bei Custom Jobs oder unseren Retail-Schriften. Basierend auf den obigen Empfehlungen der Bundesregierung, findet ihr auf unserer Website unter dem Filter barrierefrei eine umfangreiche Zusammenstellung von barrierearmen Schriften aus der TypeMates Bibliothek. Zwei exemplarische Beispiele aus unserer Library sind:
Rumiko Clear
Rumiko Clear ist eine freundliche Sans, die maximale Lesbarkeit in digitalen Umgebungen bietet. Ihre hohe Mittelhöhe, die humanistischen Proportionen, der geringe Strichstärkenkontrast und die eindeutigen Formen gewährleisten souveräne Lesbarkeit.
Meret
Meret ist eine robuste und präzise Serifen-Textschrift. Gekennzeichnet durch ein stabile Zeichenbreite, offene Formen, klar unterscheidbare Zeichen und einem ausgewogenen Grauwert, eignet sie sich hervorragend für angenehmes und unaufgeregtes Lesen.
6. Fazit: Was bedeutet das zukünftig für Schrift und Schriftnutzene?
Auch wenn das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) auf den ersten Blick viel klingen mag, gibt es keine festgelegten Normen, wie Schrift genau in ihren Formen auszusehen hat. Die Kriterien für Leserlichkeit, welche wir bei 3. ausführen, sind lediglich berechtigte Empfehlungen, um mehr Leserlichkeit zu gewährleisten. Viele Schriften erfüllen diese Kriterien ohnehin, bzw. einen Großteil davon. Das heißt, es gibt immer noch viel Freiraum für die Schriftwahl eines Textes und es ist längst nicht so, dass nun alle Schriften gleich aussehen müssen, um als barrierearm zu gelten.
Schriftnutzende können also durchatmen und sich bei der Schriftauswahl gern an den aufgeführten und eigentlich überschaubaren Leitlinien orientieren. Selbstverständlich kann man bereits leserliche Schriften wenn nötig noch zusätzlich maximal barrierearm gestalten. Ein Beispiel dazu ist die Modifikation der bereits auf Leserlichkeit fokussierten Rumiko Clear zur SBK Rumiko.
Abschließend kann im Zusammenhang Type Design und Barrierefreiheit festgehalten werden: Selbst in der Welt der schwarz-weißen Buchstaben, gibt es bei Schriften viele Graustufen und ausreichend Gestaltungsspielraum im Bereich der Barrierefreiheit.
7. Quellen
https://styleguide.bundesregierung.de/sg-de/hilfsmittel/barrierefreiheit/leserlichkeit-von-schrift#idSideNav-2048110
https://www.leserlich.info/kapitel/zeichen/schriftart.php
https://www.barrierefreiheit.online/beitraege/barrierefreie-schriftarten#a377
https://bfsg-gesetz.de/
https://gehirngerecht.digital/die-en-301-549-das-relevante-gesetz/
https://www.w3.org/TR/WCAG21/#text-spacing
https://www.barrierefreiheit-dienstekonsolidierung.bund.de/Webs/PB/DE/gesetze-und-richtlinien/en301549/en301549-node.html
Antonia M. Cornelius. (2017). Buchstaben im Kopf. Hermann Schmidt Verlag.