Aufbruch mit Altona und Alison
Die neuerweckte Altona und die daran anknüpfende Alison sind zwei zeitgemäße Interpretationen der klassizistischen Antiqua. Vereint durch ihre Klarheit und Reduktion auf charakteristischen Formen, bilden beide ein weltoffenes Team mit Mut zum Eigensinn.
Die neue Superfamilie von Albert-Jan Pool und Julia Uplegger umfasst drei charakterstarke Serifenschriften: Altona bewahrt die wunderbar eigenwilligen Buchstaben historischer Straßenschilder. Davon inspiriert, entwickelt die Alison Head den klassizistischen Ansatz ausdrucksstark weiter, während die robuste Alison Text das zuverlässige Fundament für Lesetexte bildet.
Alle drei Schriften stehen für Aufbruch und Erneuerung: Während Altona das rasante Wachstum der 1920er Jahre in der unabhängigen, sozialdemokratisch geprägten Stadt spiegelt, verkörpert Alison eine befreite Weiterentwicklung der klassizistischen Antiqua.
Altona entdeckt Altes neu
Altona versteht sich als Neuinterpretation einer originell gestalteten Straßenschilderschrift aus der Zwischenkriegszeit, als der heutige Hamburger Bezirk noch eine von der Hansestadt unabhängige Stadt war. Dank des von den Sozialdemokraten initiierten Groß-Altona-Gesetzes war diese Zeit geprägt von Modernisierung und schnellem Wachstum.
Die neue Schrift der Altonaer Straßenschilder zierte die vom damaligen Bausenator Gustav Oelsner und Bürgermeister Max Brauer modern geplanten und umgesetzten, sozialen Wohnungsbauprojekte. Mit ihren auf der klassizistischen Antiqua basierenden Formen ist die Altona ein Kind ihrer Zeit und passte sehr gut zur Backsteinarchitektur der neuen Sozialbauten. Die eigenwillig konstruierten, geometrischen Formen der Altona erzählen nicht nur vom damaligen Fortschritt und der aufkommenden Modernität des Stadtviertels, sondern spiegeln auch dessen schillernden Flair und die Vielfalt der Menschen wider, die heute dort leben.
Gegen Ende der 1920er Jahre war der Konstruktivismus en vogue. Die Entwicklung neuer Serifenschriften, serifenloser und gebrochener Schriften war zwar bereits gängige Praxis in der Schrift- und Dekorationsmalerei sowie Lithografie. Innovativ war jedoch ihre Anwendung im Rahmen des Grafikdesigns, einem damals neu aufkommenden Beruf. In der Folge ging es nicht nur darum, bekannte Formen zu rekonstruieren, wie es bei der Romain du Roi der Fall war, sondern mit Hilfe der Geometrie neue, zeitgemäße Formen zu schaffen.
Albert faszinierten die außergewöhnlichen und charakterstarken Formen der Altonaer Straßenschilderschrift. Während die Chance, Lesbarkeit und Originalität in der Beschilderung zu verbinden andernorts nicht genutzt wurde, wirken die Straßenschilder in Altona außergewöhnlich und identitätsstiftend zugleich.
Das Projekt zur Digitalisierung der Altona konkretisierte sich 2018 während einer Exkursion zur ATypI in Antwerpen. Julia hatte noch keine endgültige Idee für ihre Masterarbeit an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Zwar hatte sie den Typo-Kurs bei Albert bereits absolviert, aber noch kein Schriftprojekt in vollem Umfang abgeschlossen. Den letzten Impuls lieferte die Ausstellung »Revival« der Studierenden des Plantin-Instituts für Typografie: Hier wurden nicht nur historische Schriften digitalisiert und verbessert, sondern auch völlig neue Entwürfe auf Grundlage der Originale erstellt. Auf der Rückfahrt von der Ausstellung diskutierten Julia und Albert die Frage, »ob so ein Projekt heute noch möglich wäre oder ob alles schon abgehandelt ist« Während sie einen Espresso trank, aß er ein Fischbrötchen und zeigte seine ersten Fotos von Altonas historischen Straßenschildern.
Als Julia mit der Digitalisierung begann, stellte sich schnell heraus, dass das Alphabet der Straßenschilder unvollständig war. Zu selten beginnt ein deutscher Straßenname mit einem Q oder einem X. Auch andere wichtige Buchstaben fehlten, die Albert trotz seiner Typesafaris bis in die letzten Winkel Altonas nicht finden konnte. Aus heutiger Gestaltungsperspektive ist es erstaunlich, dass sich auch keine Grundlage für entsprechende Ziffern finden ließ. Um den außergewöhnlichen Formen der Buchstaben gerecht zu werden, wurden unkonventionelle sowie eigenwillige Formideen hinzugefügt. Auch für die Versal- und Mediävalziffern gibt es unterschiedliche Formkonzepte.
Nachdem Julia das originale Alphabet digitalisiert hatte, gab es einige Diskussionen darüber, wie viele Gewichte es geben sollte und welche Strichstärke sich angepasst an das Regular Gewicht besonders für den Fließtext eignen würde. Die Formen waren ungewohnt streng und die Serifen eher zufällig als logisch angeordnet. So entschieden die beiden, alles behutsam alltagstauglicher zu machen, ohne dabei die besonderen Eigenschaften der Schrift zu verwerfen.
Alison Head als zeitgemäße Antwort auf alte Klassiker
Nach der ersten Digitalisierung der Altona konzentrierte sich Julia auf ihre eigene Schrift, die Alison, und ließ sich für ihre Formen und Ideen von den historischen Fotos inspirieren – ganz im Sinne eines erweiterten »Revival«-Projekts. Der gemeinsame Nenner mit der Altona war die intensive Auseinandersetzung und das praktische Experimentieren mit der klassizistischen Antiqua. Dabei galt es auszutarieren, wie sich Änderungen an den Gestaltungsparametern auf den Charakter der Schrift auswirken.
Alisons Ziel ist es, eine emanzipierte Weiterentwicklung der klassizistischen Antiqua zu sein. Etwas großzügiger auf gesellschaftliche Strukturen übertragen, spiegelt sie auch eine Weiterentwicklung traditioneller Rollenbilder, die sich besonders im Bereich der Icons zeigt. Ausgestattet mit klassischen Merkmalen, einem hohen Strichstärkenkontrast, ausformulierten Formen und einer eleganten Erscheinung wirkt Alison kraftvoll und ausdrucksstark.
Aufbauend auf den Designs der Didot, Bodoni und Walbaum geht Alison selbstbewusst eigene Wege. So sind ihre Haarlinien stabiler als die der Didot, ihre Wirkung warmherziger als die der Bodoni und ihre Gestaltung eigenwilliger als die der Walbaum, jedoch ohne dass sie dadurch an Lesbarkeit einbüßen würde.
Mit der Alison Head will Julia das oft als »feminin« und »zart« konnotierte Genre aufbrechen und breiter interpretieren. So betont sie die vertikalen Serifen und erzeugt damit ein Schriftbild, das den vertrauten Tropfen und weicheren Rundungen der klassizistischen Antiqua eine gewisse Schärfe entgegensetzt. Besonders deutlich wird dies im kleinen r und y.
Albert über Alison Head: »Alison ist nicht engstirnig, sondern besitzt die Fähigkeit, Serifen, Akzente und weitere Details wahlweise elegant dünn darzustellen oder kräftig und robust hervortreten zu lassen. Dabei bedient sie sich nicht dem Klischee der strengen Geradlinigkeit, sondern besticht durch einen subtilen/feinen Schwung in den Serifen.«
Mit einem Stylistic Set aus alternativen, blockigen Serifen schließt sich der Kreis und Alison zeigt ihre historische Verbindung zur Altona.
Alison Text – robust und elegant
In Anlehnung an die Alison Head wurde die Textvariante unter dem Eindruck bestimmter Leitfragen entwickelt: Inwieweit ist das Formprinzip der klassizistischen Antiqua trotz Strichstärkenkontrast heute noch zeitgemäß? Lässt sich die Idee einer anspruchsvollen Auszeichnungsschrift mit individuellem Charakter auf eine gut lesbare Textschrift übertragen?
Alison Text versucht diese Fragen zu beantworten, indem sie den filigranen Charme der klassizistischen Antiqua mit einer guten Lesbarkeit verbindet. Speziell für den Einsatz im Fließtext entwickelt und erprobt, sind die Strichstärken sowie die x-Höhe im Verhältnis zur Ober- und Unterlänge und der Grauwert des Regular-Gewichts speziell auf kleine Punktgrößen abgestimmt. Zusammen mit der Head bildet die Text ein starkes Team – nicht nur optisch, sondern auch technisch, mit vielen OpenType-Features und Gimmicks.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Alison und Altona vereinen drei Schriftfamilien: Historisches Revival und freie Weiterentwicklung kennzeichnen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die die einzelnen Familien charakterisieren.
Während sich einige Gestaltungselemente bei allen dreien überschneiden, unterscheiden sich die Schriften in anderen Formen wiederum deutlich voneinander.
Auf der Suche nach einem passenden Versaleszett, folgten Albert und Julia zunächst unterschiedlichen Ansätzen.
Für Albert war die Entscheidung sofort klar: »Meiner Meinung nach passt die sogenannte »Dresdner Form« des Versaleszetts besser zum dynamischen Formprinzip bzw. zur Renaissance-Antiqua. Zum statischen Formprinzip bzw. zur klassizistischen Antiqua passt, wegen der vertikalen Betonung, nunmal die »Sülzbacher Form« viel besser. Logisch, sie wurde ja ebenfalls im 19. Jahrhundert entwickelt.«
Julia entschied sich hingegen im Sinne der Neuinterpretation und Abgrenzung des 21. Jahrhunderts für die »Dresdner Form« des Versaleszetts und setzte diese für Alison um. Letztendlich folgte Julia allerdings Alberts Einschätzung und sie einigten sich darauf, die »Sülzbacher Form« konsequent in alle Familien zu integrieren.
Von Formen zu Features
Während sich Julia auf ihr eigenes Projekt konzentrierte, stieg Antonia Cornelius bei Alberts Arbeit an der Altona ein und half bei Produktion, Code, Features und dem letzten Schliff. Ein Eyecatcher hierbei bildet das Stylistic Set 10: Dieses Feature positioniert Brüche – bis zu zehn Zählerstellen – übereinander. Der passende Feature-Code stellte Antonia dabei vor eine spannende Herausforderung: »Es hat Spaß gemacht, sich bei jedem neuen Fontexport davon überraschen zu lassen, ob ich einen Fehler (teilweise) behoben oder einen neuen verursacht habe.«
In der Altona erweitert das Feature ss02 »Decorative Characters« den Gestaltungsspielraum für ausdrucksstarke Headlines, indem diverse Versalien (sowie das kleine, gemeine k) mit horizontalen Zierstrichen versehen werden. In Kombination mit weiteren Stilvarianten ist das Schriftbild der Altona äußerst wandelbar. So kann zwischen einem gerundeten A, einem geraden i-Punkt oder zwischen getrennten und verbundenen Akzenten gewählt werden.
Altona bereichert die Icon-Palette
Nicht nur die Buchstaben sind vom Hamburger Stadtteil inspiriert: Von den über 160 Icons und Symbolen beziehen sich rund 60 direkt auf die Geschichte Altonas. Sie illustrieren weltbekannte Wahrzeichen der Hansestadt, verschiedene Schiffstypen, urbane Fortbewegungsmittel, hanseatische Symbole sowie allerlei Meerestiere und kulinarische Piktogramme – wie das überregional bekannte und beliebte Franzbrötchen.
Die von Antonia gestalteten Icons stehen sinnbildlich für das damals aufstrebende und sich modernisierende Altona und sind auch heute noch auf dem neuesten Stand der Technik: Über die Gewichts-Achse des Variable Fonts sind die Strichstärken der Piktogramme und Symbole flexibel konfigurierbar.
Die meisten Icons lassen sich bequem über kontextbedingte Ligaturen erreichen. So verwandelt die Eingabe »_elphi_« den String automatisch in die Silhouette der Elbphilharmonie, ohne dass lange durch die Glyphenpalette gescrollt werden muss.
Alison setzt Zeichen für Diversität
Auch Alison erweitert ihr Spektrum mit Icons: Über 60 verschiedene Gender-Symbole ermöglichen einen frischen Blick und geben moderner Vielfalt ein typografisches Ausdrucksmittel.
Alisons folgt dem Selbstverständnis, dass alle Geschlechter gleichwertig sind, weshalb auch die verschiedenen Genderformen in den Icons die gleiche Gewichtung aufweisen. Die Harmonisierung der teils sehr komplexen Symbole über verschiedene Schriftgrößen hinweg stellte sie jedoch vor eine Herausforderung, da es keine Vorlagen durch andere Schriftfamilien gab.
Die Diskussion und Entwicklung von Gender-Symbolen ist noch nicht abgeschlossen, immer wieder kommen neue hinzu, werden angepasst oder optimiert. Daher besitzen auch noch nicht alle der entwickelten Icons einen Unicode. Doch Alison steht mit ihrer breiten Auswahl bereits in den Startlöchern, um in Zukunft die Welt und Unicodes zu erobern.
Das gemeinsame Feature des Gendersterns unterstreicht die weltoffene Haltung der Schriften und die Liebe zum Detail. Wird der Stern bewusst als Genderzeichen eingesetzt, korrigiert das meist standardmäßig aktivierte OpenType-Feature der kontextabhängigen Alternativen (calt) die Position des Sterns und erzeugt so einen harmonischen Lesefluss – selbstverständlich auch im reinen Kapitälchen- oder Versalsatz. Übrigens ein Feature, das auch andere TypeMates Fonts wie die Netto oder die Grato Collection bereitstellen.
Endlich veröffentlicht, bleiben Alison und Altona zwei Herzensprojekte von Schriftgestalter:innen, die sich im Gestaltungsprozess sozialpolitisch positioniert haben. Gemeinsam stark: Die erstmals vollständig digitalisierte Schrift der Altonaer Straßenschilder sowie die kraftvollen, von den klassizistischen Schriften abgeleiteten, optischen Größen der Alison machen das Projekt zu etwas ganz Besonderem.
Nach mehreren Jahren Arbeit an den Schriften schmunzeln Albert und Julia immer noch darüber, dass das Projekt mit einem stereotypischen Fischbrötchen begann ...
Für die TypeMates Lisa, Nils und Jakob ist das Projekt von Altona und Alison nicht nur aufgrund der Leidenschaft und des Stils ein besonderes Release: Sie alle kennen Albert durch seine legendäre FF DIN und als ihren Lehrer an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Er hat alle drei maßgeblich in der Schriftgestaltung beeinflusst.